Ein Kater will nach oben

Tomba und Hedy Sigg
Tomba und Hedy Sigg

ALS MAX PFIFFNER und Hedy Sigg an einem Herbstmorgen um fünf Uhr früh vom Berghotel Schwarenbach aufbrechen, ist es noch dunkle Nacht. Schwarenbach liegt auf 2060 Meter Höhe auf der Gemmipassroute von Kandersteg nach Leukerbad. Die beiden wollen auf das Rinderhorn, einen mit 3453 Meter Höhe ganz respektablen Alpenzacken. Vor der Haustür dann ein Rascheln; im Licht der Stirnlampen leuchten Katzenaugen. Der junge Kater der Wirtsleute ist wohl auf Betteltour, denken die Bergsteiger. Und sie kümmern sich nicht weiter um das Tier, das jetzt hinterhertrottet.

Beim Daubensee, wo der Weg vom Passsträsschen abzweigt, führt die Spur im Zickzack eine steile Geröllhalde hoch. Als sich die Berggänger im Morgenlicht auf halber Höhe umdrehen, sehen sie unter sich die Katze ebenfalls hochsteigen. Auf dem 2900 Meter hohen Rindersattel beginnt der Firn. Es wird Zeit, sich anzuseilen, die Steigeisen an die Schuhe zu schnallen und vor dem Gipfelsturm noch eine Kleinigkeit zu essen. Max und Hedy setzen sich auf einen Stein. Und plötzlich sitzt die Katze auf Hedys Schoss. Für den offerierten Proviant zeigt das Tier kein Interesse; es will sich wohl nur die kalten Pfoten wärmen. Damit die Katze hier wartet, wird auf dem Fels mit einem wollenen Halstuch ein Nest gemacht. Als aber die Bergsteiger den Gletscher in Angriff nehmen, eilt die Katze sofort hinter den führenden Max und trippelt dicht neben dem Seil die steile Bergflanke empor. Wenn die Bergsteiger Atem holen, bleibt sie ebenfalls stehen. Und wo die Steigeisen beim Menschen für sicheren Halt sorgen, schlägt die Katze ihre Krallen ins Eis. Den Grat zum Gipfel schliesslich bewältigt der Vierbeiner mit hocherhobenem Schwanz am äussersten Rand.

Auf dem Gipfel macht die Katze genüsslich bei Wurst und Käse mit. Und blickt dann wie die Grossen mit Andacht in die weite Runde. Der Abstieg auf dem pickelharten Firn ist heikel. Aber anstatt den angebotenen Platz auf dem Rucksack zu beziehen, will die Katze einmal mehr den eigenen Weg gehen. Und prompt kommt sie auf dem Eis ins Rutschen. Was das Tier jedoch nicht in Verlegenheit bringt, denn geschickt nutzt es den Schwanz als Seitenruder und steuert so in die griffigere Menschenspur zurück. Nach neunstündiger Bergtour ist auch die Katze leicht angeschlagen; mit leisem Miauen bittet sie auf dem Heimweg gelegentlich um einen kleinen Halt.

Die Schwarenbachwirtin Dorothea Stoller lacht, als ihr die Gäste vom felinen Gipfelabenteuer erzählen. «Ja, ja, unser Tomba ist halt ein Bergnarr. Allein diese Saison hat er schon über ein dutzendmal Bergsteiger auf das Rinderhorn oder auf das noch höhere Balmhorn begleitet. Dabei ist er doch erst ein Jahr alt.» Und Frau Stoller erzählt den verdutzten Gästen eine Geschichte, wie sie in der Katzenwelt wohl einzigartig sein dürfte.

Mitte der achtziger Jahre war den Stollers eine hübsche Kätzin zugelaufen und gehörte bald schon zur Familie. Eines Tages tauchte im Berghotel auch ein Kater auf. Wie es sich später herausstellte, hatte der Perser den weiten Weg von Leukerbad über die Gemmi unter die Pfoten genommen, um seine Berner Braut zu treffen. Aus dem Liebesabenteuer wurde am 7. August 1988 der kleine Kater Tomba. Von Dorothea Stoller so getauft, weil die Mutterkatze Tomassa hiess - und weil in jenen Jahren ein gewisser Alberto begonnen hatte, die Frauen am Bildschirm mit katzenhaftem Slalomtanz zu entzücken. Beim alpinistischen Flair der Eltern verwunderte es nicht, dass Klein-Tomba schon mit wenigen Monaten in der näheren Umgebung erste Ausflüge zum Spittelhorn und zum Gällihorn unternahm und mit einer Schulklasse auch bereits 400 Meter hoch auf die Wyssi Flue kraxelte.

Für die Schwarenbachwirtin keine leichte Zeit. Denn sie hatte um den Kleinen Angst und holte den Ausreisser bei Wind und Wetter nach Hause, wann immer sie Kunde von einer neuen Eskapade erhielt. Und Meldungen trafen nicht nur von Berggängern ein, sondern auch aus einem Leukerbader Wirtshaus, wo Tomba eines Tages gemütlich in der Gaststube lag. Im Juni 1989 aber, Tomba war gerade zehn Monate alt geworden, berichtete der Adelbodner Peter Klopfenstein, das Tier sei ihm bis auf den Gipfel des Rinderhorns gefolgt. Jetzt begriff Dorothea Stoller, dass ihr Tomba etwas Besonders war und die Berge brauchte wie andere Katzen das Mäusespiel. Und fortan liess sie den Kater gewähren im Vertrauen darauf, dass er sein alpinistisches Talent schon richtig zu nutzen wisse. Den Berufsfotografen Klopfenstein aber hatte die bergsteigende Katze derart verblüfft, dass er völlig vergass, den Gipfelsieg des Kätzchens zu dokumentieren, und Tomba erst auf dem Rückweg am Daubensee portraitierte.

Tombas Taten machten nicht nur in Bergsteigerkreisen die Runde. Der «Walliser Bote» titelte: «Tomba - der Wanderkater. Wenn er Berge sieht, vergisst er die Mäuse.» Für eine deutsche Tierpostille war er «Ein Kater im Höhenrausch». Der «Berner Oberländer» kalauerte «Tomba: der Muskel-Kater ohne Muskelkater». Und für das «Vita Sana Magazin» waren die Dreitausendergipfel «Nur ein Katzensprung». Auch meldeten sich Leute wie Dr. Scheffler, Fachtierarzt für Kleintiere, zu Wort, der im Rostocker «Küsten-Anzeiger» meinte, dass es sich bei Tomba um ein «sportlich und konditionell durchtrainiertes Tier» handle, das wegen seines «mittellangen Grannenhaares phänotypisch in die Rasse Colourpoint» einzuordnen sei. Und das Rudelverhalten unter Menschen, denen Tomba vertrauensvoll folge, sei bei einer Katze eine «ethologisch bemerkenswerte Ausnahme». Schliesslich wanderte die Tomba-Saga um die halbe Welt. Bei der stolzen Familie im «Schwarenbach» trafen Zeitungsausschnitte aus England, Amerika, Südafrika und Japan ein.

Mittlerweile hat sich Tomba zum ausgekochten Profi gemausert. Auf der Registrierkasse liegend, hält er am Abend in der Gaststube hof und konsumiert Streicheleinheiten. Im stillen macht er sich dabei seine Meinung über die Kundschaft. Irgendwann im Laufe des Abends scheint er sich für seine Bergkameraden zu entscheiden. Später dann, kaum schläft das Haus, beginnt Tomba mit der Tourvorbereitung. Das heisst, er schleicht in die Hotelküche und sucht sich für den strengen Tag die nötigen Aufbaustoffe. Am liebsten einen währschaften Brocken Fleisch. So hatte er in der Nacht vor der Tour mit Max und Hedy ein Pfund Hackfleisch verdrückt. Am frühen Morgen dann, noch bevor die ersten Gäste sich bereit machen, legt sich der Kater vor der Haustür auf die Lauer. Und lässt Gruppe um Gruppe passieren - bis sein Favorit ins Freie tritt. So hat er an jenem Morgen erst zwei Bergsteigergruppen unbehelligt Richtung Balmhorn ziehen lassen, bevor er sich in der Dunkelheit Max und Hedy an die Fersen heftete.

Ein solches Tier wird schliesslich zur Legende. Bergsteiger berichten, Tomba habe sie vor einer gefährlichen Schneeverwehung gewarnt, indem er sich vor der betreffenden Stelle strikte weigerte, weiterzugehen. Eine andere Seilschaft schildert, wie der Kater plötzlich wie angewurzelt stehengeblieben sei. Nachdem die Gruppe ebenfalls stoppte, habe sich nur Sekunden später eine Lawine gelöst und direkt vor ihnen das Gelände verschüttet. Für Dorothea Stoller aber ist Tomba ein Fall von Seelenwanderung - die Wiederkehr eines verstorbenen, tüchtigen Alpinisten in Katzengestalt. Selbst für den nüchternen Tierbeobachter ist Tomba ein Phänomen. Ähnlich wie die Hündin Tschingel, die den englischen Alpenpionier William A. B. Coolidge in den Jahren 1865 bis 1876 über 36 Alpenpässe und auf 30 Gipfel begleitet und schliesslich mit der Besteigung des 4800 Meter hohen Montblanc ganz Chamonix aus dem Häuschen gebracht hatte. Andrerseits kennt man die unstillbare Neugier und den unbändigen Wandertrieb so mancher Katze, und man weiss, dass der Schneeleopard im Himalaja Höhen bis 5000 Meter bevorzugt. Weshalb also soll es gelegentlich nicht auch eine bergsteigende Hauskatze geben?

Unsere Geschichte hat leider kein Happy-End. Nachdem Frau Stoller ihren Tomba in manchem Gedicht verherrlicht hatte, schrieb sie vor zwei Jahren ein letztes Poem: «Die Augen Tombas, einst so blank, sie zeigen, dass das Tier sehr krank, der Doktor bringt's zum guten Schluss, dass nicht der Kater leiden muss.» Tomba ist im Januar 1993 der Katzenleukämie zum Opfer gefallen. Ein doch eher unwürdiges Ende für eine Persönlichkeit, die im Hochgebirge so mancher Gefahr getrotzt hatte.